Was ist denn da passiert ? Jahrelang wurden wir mit dem gebetsmühlenartig vorgetragenen, wie ein Ehernes Gesetz daher kommenden „2015 darf sich nicht wiederholen“ eingedeckt. Noch im Wahlkampf
2021 war dieses Mantra in fast alle Parteien eingesickert, mit dem Thema Flüchtlinge war keine Differenzierung mehr möglich.
Und nun, innerhalb weniger Tage, stehen wir plötzlich wieder alle mit weit ausgebreiteten Armen da und wollen die Flüchtlinge aus der Ukraine in Empfang nehmen. Zwar nicht unbedingt ausgesprochen
weht uns wieder ein „Wir schaffen das“ um die freundlich lächelnden Gesichter, und wieder wollen wir es alle glauben. Was ist passiert ?
Ein sich als Tyrann gebärdender Staatsmann überfällt einen Nachbarstaat, übermächtig, gnadenlos, blutrünstig. Ja, die Menschen haben allen Grund zu fliehen und wir haben allen Grund sie
aufzunehmen. An Putin allein kann es aber nicht liegen, der hatte auch schon seit 2015 die syrische Bevölkerung bombadiert und seinem Schergen Assad dabei geholfen, die Menschen mit Giftgas
grausam verenden zu lassen. Auch der Beistand für die Ukraine hielt sich trotz Okkupation der Krim und des Donbass in Grenzen. Jetzt aber ist wohl doch eine rote Linie überschritten worden, die
uns alle irgendwie eint in dem Gedanken „Jetzt reicht‘s aber“. Vielleicht haben wir auch noch die „Kalte-Krieg-Faust“ geballt in der Hosentasche, dieser Krieg ist eindeutig zu brutal und
eindeutig zu nah an unserem eigenen Territorium.
Jetzt, nachdem wir alle anderen Dogmen über Bord geworfen haben – vollständige Isolierung Russlands, SWIFT, Waffenlieferung – ist auch das Flüchtlingsthema wieder opportun. Die osteuropäischen
Länder sind emotional angesprochen, wo vor kurzem noch der Schlagstock regierte, öffnen sich nun Grenzen und Herzen. An den Grenzen Osteuropas blieb der Rassismus zwar zunächst einmal intakt,
afrikanische Studenten aus der Ukraine haben Probleme, aus der Ukraine nach Polen, Slowakei, Ungarn oder Rumänien einzureisen, seitens der EU musste ein Machtwort gesprochen werden.
Die Politik in Deutschland scheint aber aus der letzten Flüchtlingswelle Lehren gezogen zu haben. Wo früher unzureichend ausgebildete Mitarbeiter des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die
Schutzsuchenden einer Inquisition der Fluchtgründe unterzogen, wo Herkunftsländer penibel in Planquadrate aufgeteilt wurden, um doch noch einige Quadratkilometer Fläche zu entdecken, wohin sich
die Flüchtlinge auch hätten zurückziehen können, statt nach Deutschland zu kommen, da wird jetzt durchgewunken und das BAMF elegant umschifft. Die Ukraine wird voll umfänglich als Kriegsgebiet
und damit als Fluchtgrund definiert, den Menschen, die nun wahrlich genug Leid und Sorgen im Gepäck haben, wird die Demütigung der Asylverfahren erspart.
UkrainerInnen dürfen ohnehin schon mit biometrischen Pässen für 90 Tage einreisen, das ist gleich mal auf 180 Tage erhöht worden. Aufenthaltserlaubnis wird erteilt nach §24 AufenthG
(vorübergehender Schutz), Grundversorgung nach Asylbewerberleistungsgesetz, nach 18 Monaten SGB XII. Ein Schutzstatus von bis zu drei Jahren ist bereits in Aussicht gestellt, auch Menschen ohne
ukrainischen Pass, die dieses Land verlassen müssen, sollen in den Genuss der Aufnahme kommen. Obwohl man sich nach sieben Jahren Flüchtlingshilfe verwundert die Augen reibt, das ist mal ein
Wurf, der sich sehen lassen kann.
Einige der sich jetzt in „Wir schaffen das“-Stimmung befindlichen Politiker heben zwar schon warnend den Finger und appellieren an die Menschen in diesem Lande, die neu entdeckte
Willkommenskultur doch ein wenig länger walten zu lassen als 2015. Zu schnell wich diese damals der rechtspopulistischen Propaganda, zu bereitwillig waren Politiker der etablierten Parteien
bereit, aus Angst vor Stimmenverlusten den Rechtsstaat preiszugeben, ein Innenminister Seehofer bewerkstelligte eine Erosion des Rechtsstaats, die nach wie vor Wirkung zeigt. Und die
Rechtspopulisten in diesem Lande, allen voran die AfD, haben sich noch nicht so recht entscheiden können, wie sie die Sache sehen, immerhin hängen sie doch sehr an Russland und Putin.
An der Gesamtsituation von Flüchtlingen ändert sich bislang nichts. Menschen aus Afghanistan müssen nach wie vor umfänglich begründen, warum eine Rückkehr in ihr Heimatland, wo ein an Perfidität
kaum zu überbietendes Unrechtsregime herrscht, nicht zumutbar sei. Immer mehr Flüchtlinge, die aus menschenunwürdigen Lagern in Osteuropa oder von griechischen Inseln zu uns kommen, müssen ihren
Anspruch auf Schutz vor Gerichten erstreiten. Obwohl dies in den allermeisten Fällen gelingt, ist die Politik noch nicht bereit, sich hier durch gesetzliche Eingriffe zu bewegen. Nach Angaben des
International Organisation of Migration der UN sterben 2021 2.700 Menschen auf der Flucht, einfach so, ohne Beschuss, ohne Krieg.
Wird sich die europäische Flüchtlingspolitik tatsächlich ändern ? Es sieht eher so aus, als wenn es zumindest vorübergehend eine Zweiklassengesellschaft von Flüchtlingen geben könnte. Zu
unüberschaubar ist die aktuelle Situation, als dass mit weitreichenden gesetzlichen Regelungen zu rechnen wäre. Wir Helfer werden sicher auch weiterhin keinen Unterschied machen, wir werden
weiterhin jedem helfen, der Hilfe braucht, unabhängig von Herkunftsland und Religion. Und wir werden weiterhin kritisch und skeptisch der Politik gegenüber sein. Die Erosion des Rechtsstaats ist
nicht beendet und schon gar nicht behoben.
Frank Schöler